Allgemeiner Deutscher Fahrrad-Club Kreisverband Göppingen

Niederlande-Exkursion

Viele Anregungen zur Radverkehrsplanung bekamen die Gemeinderatsmitglieder und Verkehrsplaner/innen aus Süßen, Eislingen, Göppingen und Heiningen. Komplettiert wurde die Reisegruppe durch zwei Stadträtinnen aus Esslingen und einen Kreisrat aus Rottweil. © ADFC Göppingen, Thomas Gotthardt

ADFC-Studienfahrt Niederlande: Wer Visionen hat, muss nicht zum Arzt gehen

Eine 18-köpfige Delegation aus Gemeinderatsmitgliedern, Verkehrsplanern und ADFC-Vertretern besuchte vom 17. - 20. April die Niederlande. Das Fazit der Reise: Ex-Bundeskanzler Helmut Schmidt (wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen) hat sich geirrt ...

... Die Vision von der urbanen Verkehrswende wurde in den Niederlanden zur Realität, und es gibt nur positive Nebenwirkungen.

Die Reise nach Utrecht und Delft wurde vom Göppinger ADFC-Kreisverband organisiert. Fachvorträge und Führungen vor Ort erfolgten durch Experten der Dutch Cycling Embassy (DCE). In Theorie und Praxis erfuhren die Reiseteilnehmer, wie man die Menschen scharenweise aufs Rad bringt.

Irrtümlich wird oft vermutet, dass die Niederlande eine besonders lange Fahrrad-Tradition haben. Tatsächlich waren aber auch in unserem Nachbarland bis in die 1970er-Jahre die Innenstädte mit Autos verstopft und ließen kaum Platz für Fußgänger und Radfahrer.

Dann aber stellten immer mehr Kommunen auf eine konsequente Förderung des Fuß- und Radverkehrs um. Die Folgen sind heute überall sichtbar: In den Stadtzentren herrscht eine ungewohnte und angenehme Stille, zugleich pulsiert aber das Leben: Die Innenstädte sind voll von Menschen, zu Fuß und auf Fahrrädern. Davon profitieren Gastronomie und Einzelhandel.

Die Umgestaltung verlief nicht ohne Meinungsverschiedenheiten: Insbesondere beim Einzelhandel läuteten anfangs die Alarmglocken, wenn es um die Reduzierung von Kfz-Parkplätzen ging. Die Sorgen wurden aber von der Realität widerlegt: Kaum waren parkende Autos aus den Straßen verschwunden, gingen die Umsätze in die Höhe – dank der vielen Fußgänger und Radfahrenden, die plötzlich die bisherigen No-Go-Areas bevölkerten.. „Zuerst haben sich die Einzelhändler gegen die Parkplatzreduzierung gewehrt“, sagt Ruben Loendersloot von der DCE. „Als sie dann aber das Ergebnis sahen, setzten sich viele für eine noch stärkere Verkehrsberuhigung ein.“

Wie man Fuß- und Radverkehr erfolgreich fördert, erfährt die Reisegruppe zuerst in Fachvorträgen. Fahrbahn- und Kreuzungsdesign, ganzheitliche Konzeptentwicklung, viele Aspekte spielen eine Rolle - auch die Verkehrspsychologie: Radfahrende haben im Gegensatz zu Autos keine Knautschzone. Deswegen muss ihre Infrastruktur besonders sicher gestaltet sein. So sicher, dass sie keine Angstgefühle haben.

Dass den Niederländern dies gelungen ist, zeigt eine simple Alltagsbeobachtung: Niemand trägt einen Helm. Die Menschen fühlen sich sicher, und die Sicherheit ist auch statistisch belegt: Das Unfallrisiko in Stuttgart oder Göppingen ist zehnmal höher als in Amsterdam oder Utrecht. Das hat dann auch zur Folge, dass der Begriff „Elterntaxi“ in der niederländischen Sprache nicht existiert: Kinder fahren ganz selbstverständlich mit dem Fahrrad zur Schule. Theorie ist wichtig, aber das wertvollste auf einer Studienfahrt sind die praktischen Erfahrungen. Das zeigt sich auf unseren Radtouren in Städten unterschiedlicher Größenordnungen: Utrecht und Delft (360.000 bzw. 100.000 Einwohner), Houten (50.000) und Pijnacker (27.000 Einwohner).

Die urbane Verkehrswende ist ein langwieriger Prozess, der Jahrzehnte dauert und in den Niederlanden bis heute nicht abgeschlossen ist. Aber viele Städte sind inzwischen an einem Punkt angelangt, der aus unserer Sicht wie Science Fiction wirkt. In Utrecht wurde zum Beispiel eine mitten durchs Zentrum führende Stadtautobahn komplett zurückgebaut. Wo früher Autos auf sechs Spuren fuhren, fließt heute ein Kanal mit beidseitigen Grünanlagen, Fuß- und Radwegen.

Nils Steinhäuser von der DCE zeigt uns weitere Stadtgebiete, in denen sich vor wenigen Jahren noch Straßen befanden. Dort stehen heute Wohn- und Geschäftshäuser mit großzügigen Freiflächen. Und natürlich auch mit Fuß- und Radwegen. Der Straßenrückbau wurde teils durch den Verkaufserlös der Grundstücke finanziert. Es ist unglaublich, aber wir haben alles mit eigenen Augen gesehen.

Unglaublich sind auch die vorbildlichen Radwege und die riesigen Fahrradabstellanlagen. Am Utrechter Hauptbahnhof können wir das derzeit größte Fahrradparkhaus der Welt besichtigen. Auf drei Stockwerken beherbergt es 12.500 Fahrräder. Ein beeindruckender Anblick, und trotzdem nur die Spitze des Eisbergs. Denn in direkter Nachbarschaft gibt es tausende weitere Fahrradstellplätze: In Einkaufszentren, beim Messegelände, vor Restaurants, einfach überall. Man will sich nicht vorstellen, welche Parkfläche für die gleiche Menge PKW nötig wäre.

Sind die Niederlande also tatsächlich das gelobte Fahrradland? Ja und nein. Sie sind auchEisenbahn-, Auto, Straßenbahn- Bus- und  Fußgängerland. Und die einzelnen Verkehrsmittel sind auf intelligente Weise miteinander vernetzt. Aber das Fahrrad ist im Königreich Niederlande der König der Kurzstrecke, bei Entfernungen von einem bis fünf Kilometern.

Und die Niederlande hatten visionäre Kommunen, die sich schon vor mehr als vierzig Jahren an die Umverteilung des öffentlichen Raums gewagt haben. „Man braucht Visionen, und vor allem braucht man auch den Mut, diese Visionen umzusetzen“ sagt André Pettinga, langjähriger Verkehrsplaner der Stadt Delft.

Die Vision von der Umverteilung des öffentlichen Raums, sie ist inzwischen auch in immer mehr deutschen Städten und Gemeinden vorhanden. Was aber noch fehlt, ist vielerorts der Mut (und der politische Wille), die Vision durch erste Taten wahr werden zu lassen: Wohldosiert und unaufgeregt ein paar Parkplätze entfernen, hier oder da eine Durchgangsstraße in eine Sackgasse umwandeln. Wer nur ein paar neue Fahrrad-Abstellbügel aufstellt, wird die urbane Verkehrswende nicht realisieren.

Immerhin kann man in jüngster Zeit auch unter deutschen Kommunen einzelne mutige Vorreiter finden. Und das niederländische Erfolgsmodell findet inzwischen weltweit Nachahmer: Eine Woche vor unserem Besuch war der Verkehrsminister des australischen Bundesstaats Queensland mit einer Delegation zu Gast bei der Dutch Cycling Embassy. Was am anderen Ende der Welt auf Interesse stößt, wird hoffentlich auch im weltoffenen Schwabenland Fuß fassen.

Die Studienfahrt hat bei den Teilnehmer/innen einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen. Es war die erste, aber bestimmt nicht die letzte Exkursion in die Niederlande. Wenn Sie an der Reise interessiert sind, können Sie gern Kontakt mit uns aufnehmen.

Mit etwas weniger Zeitaufwand können Sie sich auch bei unserem Bildervortrag einen Eindruck verschaffen: „Vorbild Niederlande – wie wird Deutschland zum Fahrradland?“ Den Vortrag zeigen wir gern auch in Ihrer Kommune.


https://goeppingen.adfc.de/pressemitteilung/adfc-studienfahrt-niederlande-wer-visionen-hat-muss-nicht-zum-arzt-gehen-1

Bleiben Sie in Kontakt